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Der EuGH und die Kundenanlage – Ein Paukenschlag für das deutsche Energierecht

20. Juni 2025

Am 28. November 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seinem Urteil in der Rechtssache C-293/23 eine grundlegende Entscheidung zur Kundenanlage und der damit zusammenhängenden Ausnahme vom Verteilernetz im deutschen Energierecht getroffen. 

Die Entscheidung hat weitreichende Folgen für das deutsche Energierecht – insbesondere für bisherige Betreiber von Kundenanlagen. Sie könnte für zahlreiche Projekte im bislang regulierungsfreien Raum bedeuten, dass sie künftig als Verteilernetze anzusehen sind. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun am 13. Mai 2025 über den Ausgangsfall entschieden und festgestellt, dass das Energieversorgungsunternehmen nach den Kriterien des EuGH nicht als Betreiber einer Kundenanlage von der Regulierung ausgenommen werden kann, sondern als Netzbetreiber zu qualifizieren ist.

In diesem Beitrag gehen wir näher auf das Urteil des EuGH und seine Rechtswirkung in Deutschland ein. In den nachfolgenden Beiträgen beleuchten wir konkrete Konstellationen und zeigen Handlungsmöglichkeiten für Betreiber betroffener Infrastrukturen auf.

1. Die Entscheidung des EuGH: Abschied vom Sonderweg Kundenanlage?

Die Entscheidung des EuGH erging im Rahmen einer Vorlagefrage des BGH in einem sogenannten Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV). Der BGH musste in einem Rechtsstreit zwischen einem Energieversorgungsunternehmen und dem zuständigen öffentlich-rechtlichen Verteilernetzbetreiber darüber entscheiden, ob das in Frage stehende Vorhaben des Energieversorgungsunternehmens dem Begriff der Kundenanlage unterfällt und als solche an das Netz des Netzbetreibers anzuschließen ist. Er hat in diesem Zusammenhang dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/944, EltRL) einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der bei Erfüllung bestimmter Kriterien ein Unternehmen, das eine Energieanlage betreibt, nicht den Verpflichtungen eines Verteilernetzbetreibers unterliegt. Hintergrund dessen ist, dass die Definition der Kundenanlage in dieser Form nicht auf europäischer Ebene existiert. Diese Rechtsfigur zur Befreiung von regulatorischen Anforderungen ist eine Idee des deutschen Gesetzgebers und befindet sich seit 2011 im EnWG.

Der EuGH stellte nun klar, dass Vorhaben wie das in Rede stehende nach der Richtlinie nicht deshalb vom Verteilernetzbegriff ausgenommen werden könnten, weil sie über den Wortlaut der Richtlinie hinausgehende nationale Kriterien erfüllen. Damit hat er den Weg für eine einheitliche Anwendung der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie in allen Mitgliedstaaten geebnet und dem deutschen Sonderweg in seiner bisherigen Form eine Absage erteilt. 

Weitere Details zum BGH-Fall

Im Ausgangsfall stritt ein Energieversorgungsunternehmen mit einem öffentlich-rechtlichen Netzbetreiber darüber, ob eine spezifische Energieversorgungsanlage als Kundenanlage an das örtliche Verteilnetz angeschlossen werden kann. Die Anlage enthielt zwei verbundene Blockheizkraftwerke mit 20 kW und 40 kW Nennleistung und sollte zwei Wohnquartiere selbstständig mit Strom und Nahwärme versorgen. Es handelte sich um Quartiere mit 96 bzw. 160 Wohneinheiten; die jährliche Durchflussmenge sollte bis zu 1.000 MWh betragen. Der BGH hatte Zweifel, ob ein Projekt mit diesem Umfang noch als Kundenanlage von der Regulierung ausgenommen werden kann. 

Die Vorlagefrage des BGH an den EuGH lautete daher: 

Stehen die Art. 2 Nr. 28 und 29, Art. 30 ff. der Richtlinie 2019/944 einer Bestimmung wie § 3 Nr. 24a i.V.m. Nr. 16 EnWG entgegen, wonach den Betreiber einer Energieanlage zur Abgabe von Energie keine Pflichten eines Verteilernetzbetreibers treffen, wenn er die Energieanlage anstelle des bisherigen Verteilernetzes errichtet und betreibt, um mittels in einem Blockheizkraftwerk erzeugten Stroms mehrere Wohnblöcke mit bis zu 200 vermieteten Wohneinheiten und mit einer jährlichen Menge an durchgeleiteter Energie von bis zu 1.000 MWh zu versorgen, wobei die Kosten der Errichtung und des Betriebs der Energieanlage als Bestandteil eines einheitlich für die gelieferte Wärme zu zahlenden monatlichen Grundentgelts von den Letztverbrauchern (Mietern) getragen werden und der Betreiber den erzeugten Strom an die Mieter verkauft? (BGH, Beschl. v. 13.12.2022, Az.: EnVR 83/20)

Einzig entscheidend sind nach dem EuGH die in der Richtlinie selbst angelegten Kriterien. Eine Verteilung von Energie liegt nach Art. 2 Nr. 28 EltRL immer dann vor, wenn „Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung über Verteilernetze zur Belieferung von Kunden […]“ transportiert wird. Ausgenommen von der Energieverteilung ist die Versorgung, also der Verkauf von Elektrizität an Kunden, worauf es im Weiteren nicht maßgeblich ankommt. Demnach seien allein die Spannungsebene und die Kategorie von Kunden, für die die weitergeleitete Elektrizität bestimmt ist, maßgeblich, um festzustellen, ob eine Elektrizitätsverteileranlage ein Verteilernetz im Sinne der Richtlinie ist. Es ist nach dem EuGH unerheblich, ob die betreffende Anlage nach nationalem Recht bestimmte zusätzliche Kriterien erfüllt. Die nationale Rechtsfigur der sog. „Kundenanlage“ im Sinne des § 3 Nr. 24a EnWG kann damit keine Abweichung von der Reichweite des unionsrechtlichen Begriffs des Verteilernetzes im Sinne der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie bewirken. 

Ausnahmen davon sind nach dem EuGH in der Richtlinie abschließend geregelt. Diese enthält besondere Regelungen für geschlossene Verteilernetze (Art. 38 EltRL), Direktleitungen (Art. 2 Nr. 41 EltRL), Bürgerenergiegemeinschaften (Art. 16 EltRL) sowie kleine Verbundnetze und kleine, isolierte Netze (Art. 66 EltRL).

2. Die Bedeutung des Urteils: Mehr als ein Einzelfall

Nach aktueller deutscher Rechtslage sind Kundenanlagen vom Begriff des Verteilernetzes ausgenommen (§ 3 Nr. 16 EnWG). Diese nationale Regelung kann der EuGH mit seinem Urteil in dem Vorlageverfahren nicht verwerfen. Allerdings hat der EuGH die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie im vorliegenden Fall allgemeinverbindlich ausgelegt und die Aussagen des EuGH sind von so grundsätzlicher Natur, dass sie von Behörden und Gerichten bei der Anwendung des EnWG künftig auch in vergleichbaren Fällen berücksichtigt werden müssen. Das gilt aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unabhängig davon, dass das Urteil des EuGH prinzipiell nur zwischen den Parteien des Ausgangsrechtsstreits vor dem BGH Wirkung entfaltet.

Abzuwarten bleibt aber, wie Gerichte und Behörden mit dem Urteil umgehen werden. Offen ist beispielsweise die Frage, inwieweit die Begrifflichkeiten der Richtlinie selbst es erlauben, bestimmte Konstellationen aus dem unionsrechtlichen Begriff des „Verteilernetzes“ herauszunehmen, die bisher national als Kundenanlage galten und für die nach dem unionsrechtlichen Regulierungszweck der Richtlinie kein Regulierungsbedürfnis besteht. Behörden und Gerichte könnten hier gegebenenfalls den Weg einer richtlinienkonformen Auslegung des EnWG gehen, ohne den Begriff der Kundenanlage ganz fallen zu lassen. Es ist jedoch ebenso gut möglich, dass Behörden und Gerichte bisher als Kundenanlage betriebene Energieanlagen künftig sämtlich nicht mehr vom Verteilernetzbegriff des EnWG und den daran anknüpfenden Pflichten des EnWG ausnehmen, soweit die Kriterien des Verteilernetzbegriffs der Richtlinie erfüllt sind.

3. Was bedeutet das für Betreiber bisheriger Kundenanlagen?

Die Auswirkungen auf Betreiber bisheriger Kundenanlagen sind potenziell gravierend. Denn viele Betreiber haben ihre Vorhaben unter der Annahme entwickelt, sich im regulierungsfreien Raum zu bewegen. Nun besteht nicht nur eine erhebliche Rechtsunsicherheit, sondern auch Unsicherheit bezüglich der wirtschaftlichen Grundannahmen der Vorhaben. Die Auswirkungen unterscheiden sich dabei allerdings von Vorhaben zu Vorhaben.

Allgemein gilt, dass der Status als Verteilernetz verschiedene Pflichten mit sich bringt, die sich auch auf die wirtschaftliche Bewertung eines Vorhabens auswirken. Neben der Pflicht, Entgelte, Abgaben und Umlagen zu erheben, benötigen Betreiber von Verteilernetzen beispielsweise auch eine Genehmigung nach § 4 EnWG – anderenfalls droht ein Bußgeld von bis zu 100.000 EUR. Diese Anforderung muss von Beginn der Tätigkeit an erfüllt werden. Die Behörden sind zu einem Vorgehen im Zusammenhang mit vergangenen Sachverhalten aber nicht verpflichtet und können unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit von rückwirkenden Maßnahmen absehen. Diese Entscheidung liegt jedoch im Ermessen der Behörden. Umgekehrt gibt es aber auch keinen Bestandsschutz für bereits als Kundenanlage betriebene Infrastrukturen für die Zukunft. 

Im Ausgangsverfahren hat der BGH am 13. Mai 2025 aufbauend auf die Erwägungen des EuGH entschieden, dass das in Rede stehende Vorhaben als Verteilernetz einzustufen sei. Auch eine neue Verwaltungspraxis mit Wirkung für die Zukunft ist sehr wahrscheinlich – die Regulierungsbehörden arbeiten bereits an einer allgemeinen Stellungnahme. Sobald bestehende Kundenanlagen verändert werden, beispielsweise durch Beantragung eines neuen Untersummenzählers oder durch Beantragung von Marktlokationen, kann das eine Überprüfung und Neubewertung des Status durch die Regulierungsbehörden oder den örtlichen Verteilnetzbetreiber unter Berücksichtigung des Urteils mit sich bringen. 

Keine Option dürfte es jedenfalls derzeit sein, den regulierungsrechtlichen Pflichten durch die in der Richtlinie enthaltenen Ausnahmen für Bürgerenergiegemeinschaften (Art. 16 EltRL) sowie kleine Verbundnetze und kleine, isolierte Netze (Art. 66 EltRL) zu entgehen. Denn aktuell sind die entsprechenden Ausnahmen noch nicht im EnWG umgesetzt.

3.1 Vermutlich keine Konsequenzen für Hausverteilanlagen

Für Betreiber von sogenannten Hausverteilanlagen hat der BGH bereits in seinem Vorlagebeschluss ausgeführt, dass er davon ausgeht, dass diese nicht als Verteilernetze anzusehen seien. Prinzipiell erfüllen Hausverteilanlagen aber die beiden in der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie genannten Voraussetzungen an ein Verteilernetz: Es wird damit Elektrizität zumindest auf Niederspannungsebene zur Belieferung von Kunden transportiert. Zudem ist, jedenfalls wenn innerhalb des Gebäudes mit einer PV-Anlage Strom produziert wird, ein gewisses Regulierungsbedürfnis nicht vollständig von der Hand zu weisen. Der EuGH hat die Aussage des BGH aufgegriffen, ohne darauf in seinem Urteil näher einzugehen. Er hat damit zumindest die Möglichkeit offengelassen, solche Elektrizitätsverteilanlagen auch zukünftig bei entsprechender Begründung nicht als Verteilernetze anzusehen. Das betrifft gleichermaßen Vermieter eines Mehrfamilienhauses, Einkaufsmärkte mit weiteren Läden in ihrem Gebäude (wie beispielsweise Backshops oder Kioske) und Vermieter, die einzelne Räume oder Etagen eines Gebäudes zur Verfügung stellen (wie beispielsweise bei Bürokomplexen oder häufig bei Startup-Inkubatoren).

3.2 Ausnahme für Kleinstinfrastrukturen?

Fraglich erscheint zudem, ob zumindest für Kleinstinfrastrukturen zukünftig die Möglichkeit besteht, nicht den regulierungsrechtlichen Pflichten von Verteilernetzbetreibern zu unterliegen. Dem EuGH-Urteil lagen zwei Vorhaben mit 90 bzw. 160 Nutzern zugrunde, die auf ihrem Gelände jeweils durch ein BHKW mit Strom versorgt werden. Allerdings folgt der EuGH im Rahmen seiner allgemeinen Ausführungen einem technisch-funktionalen Begriffsverständnis eines „Verteilernetzes“. Es liegt daher nahe, auch Kleinstinfrastrukturen mit nur sehr wenigen Endkunden und geringen Endverbräuchen unter den Verteilernetzbegriff zu fassen. Ausdrücklich hat sich der EuGH jedoch zu dieser Frage nicht verhalten.

4. Wie reagiert der Gesetzgeber?

Die bestehenden Unsicherheiten werden auch dadurch verstärkt, dass bislang nicht absehbar ist, ob und wie der Gesetzgeber auf das Urteil reagieren wird. Zwar erscheint es aufgrund der generalisierenden Äußerungen in dem Urteil, eine einheitliche Anwendung des Verteilernetzbegriffs über alle Mitgliedstaaten hinweg sei zwingend, unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber an der pauschalen Ausnahme für bisherige Kundenanlagen vom Netzbegriff festhält. Es ist aber zugleich bislang nicht absehbar, ob er die Aussagen des Urteils lediglich mit „kleineren“ gesetzlichen Änderungen in den unionsrechtlich vorgegebenen Bereichen oder aber einer „großen Lösung“ und einer grundlegenden Abkehr vom bisherigen nationalen System umsetzt. Der BGH hat mit seinem Urteil vom 13. Mai 2025 jedenfalls zu erkennen gegeben, dass aus seiner Sicht eine vollständige Aufgabe des nationalen Konstrukts der Kundenanlage nicht erforderlich erscheint. Gleichwohl hat der BGH bereits in seinem Vorlagebeschluss betont:

Beim Anschluss einer Vielzahl vergleichbarer Kundenanlagen an das Verteilernetz wird der Netzbetrieb aber generell teurer und weniger effizient. Zunehmend weniger Letztverbraucher tragen die Gesamtkosten des Netzes. Denn für Strom, der durch eine dezentrale Erzeugungsanlage erzeugt und in der daran angeschlossenen Kundenanlage verbraucht wird, sind keine Netzentgelte gemäß §§ 20 ff. EnWG zu zahlen, während der Verteilernetzbetreiber gleichwohl genug Netzkapazität vorhalten muss, um bei einem Ausfall der dezentralen Erzeugungsanlagen die Versorgung aufrecht zu erhalten […].

Wie der Gesetzgeber auf die Urteile reagieren wird, hängt nicht zuletzt von der politischen Gestaltungskraft und Bereitschaft des Gesetzgebers ab, das EnWG in dieser Hinsicht differenziert und europarechtskonform neu zu fassen. Schließlich wird abzuwarten sein, ob er die Erwägungen des BGH aufgreift, auch die Wirtschaftlichkeit des Verteilernetzes insgesamt stärker in den Blick zu nehmen oder ob er an der Erleichterung des Übergangs zu einem nachhaltigen Energiesystem innerhalb dezentraler Erzeugungsanlagen festhält.

5. Fazit: Anforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten schon jetzt prüfen

Auch wenn noch unklar ist, wie der Gesetzgeber und die Behörden auf das Urteil reagieren werden, ist eines sicher: Die Energiewirtschaft in Deutschland muss sich auf ein neues regulatorisches Umfeld einstellen.

Mit dem Urteil des EuGH stehen Betreiber bisheriger Kundenanlagen und Entwickler entsprechender Vorhaben schon jetzt vor großen Herausforderungen. Sie sollten sich daher frühzeitig mit den neuen rechtlichen Anforderungen und Pflichten auseinandersetzen und prüfen, ob und auf welche Weise sie auch weiterhin im regulierungsfreien Raum agieren (können).

Wir halten Sie über die Entwicklungen auf dem Laufenden und stehen Ihnen für eine individuelle rechtliche Bewertung Ihrer Situation gerne zur Verfügung.

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