Mit Urteil vom 5. Juni 2025 (Rs. C-82/24; Veolia Water Technologies u. a.) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) den unionsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung und das Transparenzgebot in Vergabeverfahren für EU-weit ausgeschriebene öffentliche Bauaufträge maßgeblich konkretisiert. Nach Auffassung des EuGH dürfen nationale Vorschriften, die weder in den Vergabeunterlagen noch im ausgeschriebenen Bauvertrag ausdrücklich benannt sind, nicht im Wege einer analogen gerichtlichen Auslegung zur Anwendung kommen. Denn eine etwaige (implizite) Geltung nationaler Vorschriften ist für einen durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung üblicher Sorgfalt nicht hinreichend klar und vorhersehbar. Insbesondere Bieter aus anderen EU-Mitgliedstaaten verfügen in der Regel nicht über vergleichbare Kenntnisse des nationalen Rechts und dessen Anwendungspraxis wie inländische Bieter.

Keine „versteckten“ Garantiepflichten im Bauvertrag: EuGH stärkt Gleichbehandlungsgrundsatz und Transparenzgebot bei unionsweiten (Bau-)Vergaben mit europäischen Bieterkreis
15. Juli 2025

Sachverhalt
Dem Urteil lag eine in Polen durchgeführte öffentliche Ausschreibung von Bauleistungen zur Modernisierung und Erweiterung einer Kläranlage zugrunde. Den Zuschlag erhielt ein Konsortium, dem auch Bauunternehmen aus anderen europäischen Mitgliedstaaten angehörten. Der Bauvertrag enthielt eine sog. „Garantiekarte“, die eine Garantiefrist von 36 Monaten ab Abnahme für etwaige Mängel vorsah. Die Garantiekarte sah zudem vor, dass auf die Garantie ergänzend auch das polnische Bürgerliche Gesetzbuch analog anwendbar sei.
Nach Fertigstellung und erfolgter Abnahme traten innerhalb der 36-monatigen Garantiefrist Mängel an einem sog. Rekuperator auf, der daraufhin von der Auftragnehmerin ausgetauscht wurde. Als an dem ausgetauschten Rekuperator erneut Mängel auftraten, lehnte die Auftragnehmerin eine weitere Reparatur bzw. einen weiteren Austausch ab, da die ursprüngliche Garantiefrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war. Die öffentliche Auftraggeberin vertrat hingegen die Auffassung, dass sich der weiterhin bestehende Garantieanspruch aus der analogen Anwendung einer für Kaufverträge geltenden Regelung des polnischen Bürgerlichen Gesetzbuches ergebe, wonach nach erfolgter Lieferung einer neuen mangelfreien Sache die Garantiefrist erneut zu laufen beginnt.
Das zuständige Regionalgericht Warschau legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob eine entsprechende analoge Anwendung der kaufvertragsrechtlichen Bestimmungen auf den zugrundeliegenden Bauvertrag unionrechtskonform sei.
Die Entscheidung
Mit seiner aktuellen Entscheidung hat der EuGH eine analoge Anwendung der kaufvertragsrechtlichen Bestimmungen auf den zugrundeliegenden Bauvertrag verneint. Dies würde nach Ansicht des Gerichtshofs gegen den zu den Grundprinzipien des Unionsrechts zählenden Gleichbehandlungsgrundsatz und das Transparenzgebot verstoßen.
In seiner Entscheidung knüpft der EuGH maßgeblich an seine Pizzo-Rechtsprechung (Urteil vom 2. Juni 2016, (Rs. C-27/15, ECLI:EU:C:2016:404)) an, in welcher er bereits entschied, dass ein Bieter in einem öffentlichen Vergabeverfahren nicht allein aufgrund der Nichterfüllung einer Verpflichtung ausgeschlossen werden darf, die sich lediglich aus der Auslegung einer nationalen Rechtsvorschrift und nicht ausdrücklich aus den Vergabeunterlagen oder dem nationalen Recht ergibt.
Die neuerliche Entscheidung erstreckt die bisherige Rechtsprechung auch auf die spätere Vertragsausführung und stellt klar, dass die gerichtliche analoge Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, etwa wie hier aus dem (polnischen) Kaufvertragsrecht, auf öffentlich vergebene Bauverträge unionsrechtswidrig ist, wenn die Anwendung dieser Vorschriften nicht ausdrücklich aus den Vergabeunterlagen, insbesondere dem Bauvertrag, hervorgeht und daher für den Bieter nicht ersichtlich war.
Der EuGH führt in diesem Zusammenhang aus, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung und das Transparenzgebot im Vergabeverfahren voraussetzen, dass alle wesentlichen Bedingungen und Modalitäten klar, eindeutig und vorhersehbar in den Vergabeunterlagen enthalten sein müssen. Dies gilt insbesondere für Bedingungen und Modalitäten, die mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die Bieter verbunden sind, wie etwa die Dauer einer Garantie und die Bedingungen ihrer Inanspruchnahme.
Mit diesen Grundsätzen sei es unvereinbar, durch gerichtliche Auslegung analog nationale Rechtsvorschriften über Garantien im Bereich von Kaufverträgen auf einen Bauvertrag anzuwenden, wenn deren Anwendbarkeit weder in den Vergabeunterlagen noch in dem Bauvertrag ausdrücklich angegeben wurde. Denn die Anwendbarkeit dieser Rechtsvorschriften sei für einen durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt nicht hinreichend klar und vorhersehbar ist. Ein in den Vergabeunterlagen enthaltener Hinweis auf eine mögliche analoge Anwendung nationaler Rechtsvorschriften ist unzureichend, um die fehlende Konkretisierung in den Vergabeunterlagen zu heilen. Der EuGH führt insbesondere an, dass ausländische Bieter mit den nationalen Rechtsvorschriften und deren Anwendungspraxis typischerweise weniger vertraut sind als inländische Bieter und durch eine auch bei Anwendung der üblichen Sorgfalt nicht erkennbare analoge Anwendung nationaler Rechtsvorschriften benachteiligt sein können.
Folgen für die Vergabepraxis
Mit dem Urteil stärkt der EuGH den Grundsatz der Gleichbehandlung und das Transparenzgebot bei öffentlichen Ausschreibungen insbesondere zugunsten Bieter anderer EU-Mitgliedstaaten, die sich grenzüberschreitend im Rahmen öffentlicher Bauvergabeverfahren engagieren. Diese dürfen darauf vertrauen, dass der Inhalt der Vergabeunterlagen Vorrang vor einer gegebenenfalls analog anwendbaren nationalen Rechtsvorschrift hat, wenn deren Anwendung für den Bieter nicht vorhersehbar ist.
In der Praxis ist bei Großprojekten, gerade bei Infrastruktur- und Anlagenprojekten im grenznahen oder -überschreitenden Bereich, die Beteiligung von Bauunternehmen oder Konsortien aus anderen Mitgliedstaaten immer wieder zu beobachten. Öffentliche Auftraggeber sind unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH künftig noch stärker gefordert, alle relevanten Vertragsbedingungen präzise, vollständig und nachvollziehbar in die Vergabeunterlagen aufzunehmen. Auf nur durch etwaige analoge Anwendung nationaler Rechtsvorschriften erschließbare Vertragsinhalte, die wesentliche Pflichten, wie etwa die Gewährleistung, betreffen, kann sich ein öffentlicher Auftraggeber nicht zum Nachteil von Bietern berufen.
Die zentralen Grundsätze von Gleichbehandlung und Transparenz sind natürlich auch außerhalb der Vergabe öffentlicher Bauaufträge von Relevanz. Gerade im Bereich der Software-Beschaffung kann sich ein agiles internationales Bieterfeld zeigen. Auch in diesem Bereich ist die neuerliche EuGH-Rechtsprechung beachtlich und bei der Verfahrens- und Vertragsgestaltung im Vergabeverfahren zu berücksichtigen.
Wir stehen Ihnen bei Fragen rund um das Urteil sowie für eine individuelle rechtliche Bewertung Ihrer Situation gerne zur Verfügung.