Mit seinem Urteil vom 28. November 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die deutsche Rechtsfigur der Kundenanlage nach § 3 Nr. 24a EnWG keine Ausnahme vom unionsrechtlichen Verteilernetzbegriff begründet. Für die Frage, ob ein Verteilnetz vorliegt, sei allein entscheidend, ob über die Leitungen Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung zur Belieferung von Kunden transportiert wird.
Das Urteil wirft grundlegende Folgefragen auch für Betreiber von Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung auf. Denn die Kernaussage des EuGH, dass die Belieferung von "Kunden" auf einer der genannten Spannungsebenen zur Einstufung als Verteilernetz führt, betrifft auch Betreiber solcher Energieverteilungsanlagen.
1. Begrenzter Verfahrensgegenstand, große Wirkung?
In dem Vorlageverfahren hatte der EuGH ausschließlich über die „allgemeine“ Kundenanlage nach § 3 Nr. 24a EnWG zu entscheiden. Die Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung gemäß § 3 Nr. 24b EnWG war nicht Gegenstand der Vorlage und wurde vom EuGH daher nicht thematisiert. Trotzdem lassen sich die europarechtlichen Wertungen des Urteils auf diese Norm übertragen.
Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie Energie fast ausschließlich innerhalb des eigenen Unternehmens oder zu verbundenen Unternehmen oder fast ausschließlich zum der Bestimmung des Betriebs geschuldeten Abtransport in ein Energieversorgungsnetz transportieren. Sie waren bislang von § 3 Nr. 24b EnWG erfasst und dadurch privilegiert, dass eine Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung ebenso wie die allgemeine Kundenanlage vom Begriff des Verteilernetzes ausgenommen war (§ 3 Nr. 16 EnWG, zur Betreibereigenschaft siehe § 3 Nr. 18 EnWG). Das EuGH-Urteil stellt nun die Frage neu, ob diese nationale energierechtliche Einordnung unionsrechtlich tragfähig ist.
Die Betreiber von Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung müssen nach dem Urteil des EuGH für ihren Einzelfall prüfen, ob nach den Kriterien des Gerichtshofs ein Verteilernetz vorliegt – ob also Kunden mit Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung beliefert werden.
Gleichzeitig erscheint es gut möglich, dass auch die Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung gesetzgeberische Anpassungen erfährt und nicht mehr wie bisher vollständig von den regulatorischen Pflichten freigestellt wird (mehr Details zu möglichen gesetzlichen Anpassungen finden Sie in unserem ersten Beitrag der Reihe zur Kundenanlage).
2. Kann ein „Familienmitglied“ ein „Kunde“ sein?
Für die aktuell als Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung betriebenen Anlagen kommt es entscheidend darauf an, in welchen Fällen (künftig) ein „Kunde“ beliefert wird. Die Kundenbelieferung ist nach dem EuGH gerade die Grundvoraussetzung für ein Netz (siehe Art. 2 Nr. 28 EltRL und § 3 Nr. 36 EnWG). Ein Kunde ist nach Art. 2 Nr. 1 EltRL ein „Großhändler bzw. Endkunde, der Elektrizität kauft“, Art. 3 Nr. 12 EltRL definiert die Versorgung als „den Verkauf […] von Elektrizität an Kunden“. Wird kein Kunde beliefert, handelt es sich folglich nicht um ein regulierungsbedürftiges Netz.
Hier stehen viele Abgrenzungsfragen noch offen, beispielsweise:
- Ob und unter welchen Voraussetzungen verbundene Unternehmen als Kunden zu behandeln sind.
- Ob der Begriff des Kunden vom Elektrizitätsversorgungsunternehmen oder vom Betreiber der Leitungsinfrastruktur abgegrenzt werden muss.
- Ob bei einer Belieferung Dritter am Standort im Rahmen eines „Warmmietvertrags“ ein Verkauf an Kunden vorliegt.
Bei diesen Fragen spielen unterschiedlichste Argumente eine Rolle, die zukünftige behördliche und gerichtliche Praxis bleibt abzuwarten. Allem voran ist die wettbewerbsrechtliche Relevanz und das daraus resultierende energierechtliche Regulierungsbedürfnis im Einzelfall zu bewerten und mit dem derzeitigen Wortlaut und der Systematik des EnWG in Einklang zu bringen.
Über die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie hinausgehende Kriterien, wie beispielsweise, dass es unschädlich sein soll, wenn nur in sehr geringem Umfang Elektrizität an Dritte transportiert wird, dürften bei Anwendung der Maßgaben des EuGH entgegen § 3 Nr. 24b EnWG künftig nicht zum Ausschluss der Pflichten von Verteilernetzbetreibern führen können. Wird also Energie an Dritte transportiert, die außerhalb des eigenen oder verbundenen Unternehmen stehen, dürfte es sich stets um die Belieferung von Kunden handeln (mit einer etwaigen Ausnahme für Kleinstinfrastrukturen haben wir uns im ersten Beitrag dieser Reihe auseinandergesetzt).
Auf das Verhältnis der verteilten Energiemenge, also ob die Energielieferung „fast ausschließlich“ der Eigenversorgung dient, kommt es dann nicht mehr an. Der prozentuale Anteil tritt hinter dem qualitativen Kriterium der Kundenbelieferung zurück. Ob dem Kundenbegriff dennoch ein Marginalschwellenwert inhärent sein kann, ist bislang ungeklärt.
3. Handlungsempfehlungen für Betreiber: Bestandsaufnahme und Prüfung von Gestaltungsmöglichkeiten
Zunächst sollten Betreiber überprüfen, zu welchen Abnahmestellen derzeit Strom gegen Entgelt transportiert wird und ob sie dem eigenen Unternehmen, verbundenen Unternehmen oder Dritten zuzuordnen sind.
Je nachdem, ob eine ausschließliche Eigenversorgung, eine Belieferung ausschließlich von verbundenen Unternehmen oder auch eine Belieferung von Drittunternehmen oder Privatpersonen erfolgt, stehen unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten im Raum. Während in manchen Fällen die Einstufung als Verteilernetz von vornherein ausgeschlossen werden kann, kommt in anderen Fällen zumindest der Betrieb eines geschlossenen Verteilernetzes mit geringeren regulatorischen Anforderungen oder aber die Einbeziehung des örtlichen Netzbetreibers in Betracht. Je nach Anzahl verbundener Unternehmen und Hintergrund der Konzernstruktur könnte auch eine gesellschaftsrechtliche Zusammenfassung in einer juristischen Person erwogen werden, wodurch je nach Ausgestaltung ein Verteilernetz verhindert würde. Es muss jedoch überprüft werden, ob dem steuerliche und haftungsrechtliche Gründe entgegenstehen.
Werden auch Dritte beliefert, kann gegebenenfalls ein geschlossenes Verteilernetz eingerichtet werden. Dazu müsste allerdings nach § 110 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EnWG eine technische oder sicherheitstechnische Verknüpfung der Tätigkeiten oder Produktionsverfahren der Anschlussnutzer dieses Netzes gegeben sein (nähere Details hierzu finden sich in unserem Blogbeitrag zu Auswirkungen auf Gewerbeparkbetreiber) oder aber es müsste zumindest eine gewisse Eigenversorgungsquote vorliegen. Während in einer Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung maximal 5 bis 10 % der Energie an Dritte transportiert werden darf, ist dies in einem geschlossenen Verteilernetz in deutlich größerem Umfang von < 50 % möglich. Andernfalls kann die Einbindung in das Verteilnetz des örtlichen Verteilnetzbetreibers erwogen werden.
Für Leitungsinfrastrukturen, die fast ausschließlich dem der Bestimmung des Betriebs geschuldeten Abtransport in ein Energieversorgungsnetz dienen, stellen sich ähnliche Fragen wie für Betreiber von Einspeiseinfrastrukturen (siehe hierzu unseren gesonderten Blogbeitrag).
4. Auswirkungen auch auf Förderung und Privilegierung
Wie bereits in unserem Beitrag zu Förder- und Befreiungstatbeständen erläutert, knüpfen viele gesetzliche Begünstigungen an die Eigenschaft als Kundenanlage an. Auch die Betreiber von Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung sollten die Auswirkungen des Urteils auf die Förderung und Privilegierung ihres Vorhabens prüfen, da sie möglicherweise infolge des Urteils zur Erhebung von Umlagen verpflichtet werden, nicht mehr stromsteuerlich privilegiert sind oder den Zugang zu Mieterstromförderung und gemeinschaftlicher Gebäudeversorgung verlieren. Damit kann die wirtschaftliche Grundlage vieler Vorhaben vor einer Neubewertung stehen. Hier müssen die Signale und etwaigen Anpassungsbestrebungen des Gesetzgebers in Bezug auf die Förderungs- und Privilegierungstatbestände genau beobachtet werden.
5. Fazit
Die Entscheidung des EuGH hat auch für (bisherige) Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung erhebliche Bedeutung. Zwar ist § 3 Nr. 24b EnWG von dem Urteil formell nicht betroffen, doch in der Sache gelten dieselben europarechtlichen Vorgaben. Betreiber müssen sich auf die neuen Bewertungskriterien einstellen und ihre Strukturen überprüfen. Wer sorgfältig prüft und bereits jetzt eigene Lösungen für seine konkrete Situation vor Ort entwickelt, kann auch künftig rechtssicher und wirtschaftlich effizient agieren.