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Update Beihilferecht: EuGH bestätigt – Europäische Kommission muss Vorliegen einer Beihilfe abschließend prüfen

14. Juni 2024

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 13. Juni 2024 (C-40/23 P, Kommission / Niederlande, ECLI:EU:C:2024:492, abrufbar hier) ein wegweisendes Urteil im EU-Beihilferecht gefällt. Der EuGH präzisiert die Bedingungen für die Entscheidungsbefugnisse der Europäischen Kommission bei der Prüfung staatlicher Maßnahmen. Der EuGH stellt klar, dass die Europäische Kommission nicht über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Binnenmarkt entscheiden kann, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass diese Maßnahme eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV darstellt. Damit sind Abkürzungen der Prüfung aus pragmatischen Gründen – weil die Maßnahme ohnehin genehmigt werden könnte – nicht mehr möglich.

Der EuGH bestätigt damit das Urteil der Vorinstanz, des Gerichts der Europäischen Union (EuG) vom 16. November 2022 (T-469/20, Niederlande / Kommission, ECLI:EU:T:2022:713, abrufbar hier.)

Was war Gegenstand des Verfahrens vor dem EuG?

Im Jahr 2019 haben die Niederlande den Ausstieg aus der Nutzung von Kohle zur Stromerzeugung beschlossen. Als Teil dieses Ausstiegsplans musste eines der niederländischen Kohlekraftwerke (Hemweg 8) bereits Ende 2019 schließen. Ohne diese Schließungsanordnung wäre das Kohlekraftwerk noch einige Jahre weiter betrieben worden. Der Betreibergesellschaft von Hemweg 8 wurde daher als Ausgleich für den durch die vorzeitige Schließung entstandenen Schaden (z.B. keine Amortisierung von Investitionen in die Anlage) von der niederländischen Regierung eine Entschädigung in Höhe von 52,5 Mio. EUR zugesagt.

Mit Beschluss vom 12. Mai 2020 erklärte die Europäische Kommission diesen Entschädigungsanspruch als mit dem Binnenmarkt vereinbar. Sie ließ dabei offen, ob die Entschädigung tatsächlich eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV beinhaltet und stützte sich darauf, dass die Beihilfe ohnehin von ihr für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wurde. Die Niederlande erhoben daraufhin Nichtigkeitsklage zum EuG und beantragten die Aufhebung des Genehmigungsbeschlusses. Denn nach Auffassung der Niederlande fehlt es an einer Begünstigung der Betreibergesellschaft, sodass keine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt.

Das EuG stellte in seinem Urteil vom 16. November 2022 klar, dass die Europäische Kommission nicht über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Binnenmarkt entscheiden kann, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass diese Maßnahme eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt. Erst wenn sie das Vorliegen einer Beihilfe bejaht, soll sich die Europäische Kommission der Frage widmen können, ob die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (unseren ausführlichen Bericht zu dem Urteil finden Sie hier.)

Wie hat der EuGH entschieden?

Der EuGH hat die rechtstechnischen und rechtspraktischen Einwände der Kommission abgelehnt und das Urteil des EuG bestätigt. Da keine weiteren Instanzen mehr offen sind, ist das Verfahren damit beendet.

Die Europäische Kommission hat in ihrem Rechtsmittel gegen das EuG-Urteil insbesondere geltend gemacht, dass Art. 107 AEUV keine Verfahrensvorschriften enthalte und dass sich aus Art. 107 Abs. 1 AEUV auch nicht ergäbe, dass die Einstufung einer Maßnahme als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eine Voraussetzung für die eventuelle Anwendung der in Art. 107 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Ausnahme darstellt. Außerdem hob die Europäische Kommission hervor, dass es Situationen gäbe, in denen es einfacher sei, zu beurteilen, ob eine Maßnahme mit dem Binnenmarkt vereinbar sei, als festzustellen, ob sie eine staatliche Beihilfe sei. Dann käme es auf die Feststellung des Beihilfecharakters auch nicht mehr an.

Den EuGH konnten diese Argumente der Europäischen Kommission nicht überzeugen. Die Richter stellen klar, dass die Europäische Kommission nur befugt ist, solche Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt hin zu prüfen, welche staatliche Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen. Umgekehrt könne die Europäische Kommission die Vereinbarkeit solcher Maßnahmen mit dem Binnenmarkt nicht prüfen, wenn sie keine staatlichen Beihilfen sind.

Die Europäische Kommission muss sich also zur Einstufung einer Maßnahme als staatliche Beihilfe äußern, bevor sie gegebenenfalls prüfen kann, ob eine solche Beihilfe trotz dieser Einstufung als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden kann. Die Erwägungen zur Zweckmäßigkeit der bisherigen Kommissionpraxis könnten die Systematik und Kohärenz von Art. 107 Abs. 1 AEUV nicht in Frage stellen. Bei Zweifeln hinsichtlich der Einstufung einer Maßnahme als Beihilfe, müsse sie das förmliche Prüfverfahren (Phase 2-Verfahren) eröffnen.

Welche Bedeutung hat das Urteil über diesen Einzelfall hinaus?

Praktische Auswirkungen wird das Urteil lediglich in solchen Fällen haben, in denen die Bewertung des beihilferechtlichen Charakters einer Maßnahme komplex ist. In diesen Fällen muss die Europäische Kommission nunmehr die tatsächliche Situation näher ermitteln oder schwierige Abgrenzungsfragen entscheiden. Dies beansprucht Zeit und Ressourcen der Europäischen Kommission, des jeweiligen Mitgliedstaats und auch des Beihilfeempfängers.

Für die Europäische Kommission war es bislang komfortabel, die Frage des Vorliegens einer Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV nicht abschließend entscheiden zu müssen. Sie konnte sich in Einzelfällen die teilweise mühsame Analysen insbesondere zum begünstigenden Charakter und den Auswirkungen der staatlichen Maßnahme auf den zwischenstaatlichen Handel zwischen Mitgliedstaaten ersparen und direkt in die (wettbewerbspolitisch interessantere) Prüfung der Vereinbarkeit der staatlichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt einsteigen. Diese Flexibilität hat sie jetzt verloren. Der Nachteil dieser Handhabung war gleichwohl, dass für Rechtsanwender relevante Abgrenzungsfragen zum Beihilfebegriff ungeklärt geblieben sind. Diesbezüglich konnte sich die Entscheidungspraxis nicht weiterentwickeln, was der Rechtssicherheit nicht zuträglich war.

Der EuGH gebietet dieser Praxis der Europäischen Kommission nun Einhalt. Es bleibt abzuwarten, wie tiefgreifend die Auswirkungen auf die Arbeit der Europäischen Kommission tatsächlich sein werden, da lediglich eine Minderheit der Fälle betroffen ist. Aber auf diese Fälle wird künftig deutlich mehr Zeit und Energie verwendet werden müssen – eine schlechte Nachricht für diejenigen, die schnelle Entscheidungen benötigen. Da alle Merkmale einer Beihilfe vollständig aufgeklärt werden müssen, wird bei der Anmeldung von Beihilfen von Anfang an eine umfangreichere Darstellung und Prüfung erforderlich sein. Zudem ist der Spielraum für eine lösungsorientierte Abstimmung mit der Europäischen Kommission zu Genehmigungen kleiner geworden. Erfreulich ist, dass vermehrt praxisrelevanten Fragen geklärt werden dürften, wie die Einordnung von Entschädigungszahlungen bei Enteignungen oder enteignungsgleichen Eingriffen (so der Fall, der Anlass zum Verfahren gab).

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